In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 versuchte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, einen Volkszorn zu inszenieren. Was wie eine spontaner Ausbruch von Unbehagen gegenüber der jüdischen Bevölkerung scheinen sollte, war lange geplant. Die tragische Bilanz des größten Pogroms der Neuzeit in Mitteleuropa: 91 Juden wurden ermordet, 1400 Synagogen brannten oder waren verwüstet, 7500 Geschäfte wurden geplündert.
Morgen jährt sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal. Dazu Hanka Kliese: „Das sollten wir zum Anlass nehmen, den Opfern zu gedenken, auf den Antisemitismus in unserer Gegenwart aufmerksam zu machen und um unsere Rituale im Gedenken auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Heute reden wir viel über Zivilgesellschaft, die es braucht. Wie sah es eigentlich am 10. November 1938 mit der Zivilgesellschaft aus?
Die evangelische Kirche verzichtete auf einen öffentlichen Protest, nur einzelne Pfarrer zeigten Courage, sie mussten für ihre Solidarität bitter bezahlen und kamen wie Pfarrer Albert Schmidt selbst ins KZ.
Die katholischen Bischöfe schwiegen ebenso. Dompropst Bernhard Lichtenberg war der einzige katholische Priester, der offen gegen das Anzünden der Synagogen predigte. Er sagte die weisen Worte: ‚… was heute geschehen ist, haben wir erlebt: Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus!‘
Ein großes Schweigen lag über unserem Land, nachdem so viel Unrecht geschehen war. Auch das ist eine Mahnung, die uns dieser Tag mitgibt – Wir dürfen geschehenes Unrecht nicht übergehen.
Am Morgen des 10. November 1938 haben die Deutschen die Splitter unter ihren Füßen gespürt. Und nichts getan. Sie haben nichts gesagt und nichts infrage gestellt.
Auch heute gibt es Splitter von eingeworfenen Scheiben, Spuren von Hakenkreuzen und offene Angriffe auf Juden.
Was wir tun können, ist hinsehen, hingehen, die Stimme erheben.
Unsere Erinnerungskultur ist an einem sensiblen Punkt angelangt. Wir müssen schmerzlich feststellen, dass jahrzehntelanges Gedenken nicht mit einer Immunisierung gegen Antisemitismus einhergeht.
Gut gemeinte, kernige Aussagen wie „Keine Toleranz den Intoleranten“ verfehlen ihre Wirkung. Weil sie zu phrasenhaft wirken oder zu abstrakt sind für den Einzelnen. Und weil Vorurteile sich schon längst wieder breit gemacht haben. Der Aussage: „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer gewesen sind“ stimmen laut Sachsen-Monitor 39 Prozent aller sächsischen Beamten zu.
Ich frage mich oft, wie man Menschen bewegen kann, achtsamer zu sein und was heutzutage tatsächlich noch Herzen berührt. Dann lande ich immer wieder bei Einzelschicksalen und hoffe auf deren Wirkung. So bewegte mich unlängst die Geschichte von Ursula Rosenfeld. Bis zur Machtergreifung erlebte sie eine glückliche Kindheit. Danach wurde sie zusehends isoliert, niemand erschien mehr zu ihrer Geburtstagsfeier, eine andere Schule sollte sie sich suchen. In der Pogromnacht wurde ihr Vater verhaftet. Er wurde nach Buchenwald transportiert und dort zu Tode geschlagen. Über einen der so genannten Kindertransporte kam sie von Holland nach England zu einer Familie, die sie aufnahm. Sie hatte also großes Glück. Als der Krieg zu Ende war, wollte Ursula Rosenfeld endlich ihre Eltern wieder sehen. Nun erfuhr sie vom Tod ihres Vaters und dass ihre Mutter in Minsk erschossen wurde.
Manche Juden hätten mit einer rechtzeitigen Ausreise vor der Pogromnacht am Leben bleiben können. Aber sie blieben in Deutschland, weil es ihre Heimat war und sie dachten „So schlimm wird es schon nicht kommen.“
Auch heute denken manche Menschen – nicht nur Juden – wegen Gewalt und Ausgrenzung darüber nach, Deutschland zu verlassen. Sie bleiben hier, weil sie glauben: „So schlimm wird es nicht kommen.“
Auch wenn wir heute aufgeklärter sind und unsere Demokratie stabiler ist: Genau darin liegt unser aller Verantwortung.“
Foto: Christoph Münch, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6052976